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Wanderboje am Mauerstreifen, Berlin 2009

Zwischen dem 13. August (Tag des Mauerbaus) und dem 9. November (Mauerfall) umrundete die Wanderboje Berlin. Die Wanderboje machte überall dort Station, wo wir private Geschichten mit der Berliner Mauer fanden.
Sie können auf die einzelnen Geschichten über die Orte des Geschehens oder die Liste der Geschichten zugreifen, zusätzlich können sie sich Bilder des Events ansehen

Mit dem U-Bahn-Ticket über die Grenze

Der Herbst 1989 war eine gute Zeit für Nachrichten-Junkies wie H. So kam es auch, dass unsere WG samt Besuchern umgehend von Schabowskis Pressekonferenz mit der Ankündigung zur neuen Ausreiseregelung informiert wurde. Und was taten wir? Wir gingen gemeinsam Pizza essen. Im Radio gab es zwischendurch Berichte, dass sich Leute in Ost und West an der Mauer versammeln würden. Wir diskutierten die politische Lage und gingen wieder nach Hause. Die meisten waren schon bettfein, als H. wieder ankam: CNN und SFB zeigten pausenlos Live-Bilder vom Brandenburger Tor. War das nicht Weltgeschichte? Da mussten wir doch dabei sein. Etwas müde ließen wir uns alle überzeugen. Als wir ankamen, standen schon Dutzende – oder waren es Hunderte? – von Leuten auf der breiten Mauerkrone, hüpften und feierten. Einige hämmerten auf dem Beton herum. Davor eine bunte Menge, die aufgeregt und etwas ziellos herum lief. Mehrere Fernsehwagen übertrugen die Szene, halb Demo, halb Fest. Als wir dann hoch kletterten, wurde uns mulmig zumute: Die Fläche war nass und rutschig. Offenbar hatte es schon einen Wasserwerfereinsatz gegeben, einen Versuch der Grenztruppen, die Leute weg zu spritzen. Im Moment aber war alles ruhig. Das machte aber die Postenkette, die in voller Montur und bewaffnet in Bereitschaft stand nicht weniger bedrohlich. Auch die Stimmung auf der Mauer schien jederzeit kippen zu können. Wir kletterten lieber wieder runter. Unten wurde uns bestätigt: Die Grenzübergänge waren offen! Spontan beschlossen wir, in dieser historischen Nacht mal ohne Passierschein „rüberzumachen“. Auf dem Weg zur Invalidenstraße war es plötzlich seltsam still. Nur einige Trabis kamen uns entgegen. Erst in der Nähe des Grenzübergangs waren wieder eine Menge Leute, offenbar Westberliner, die warteten und diskutierten und den ankommenden Autos zujohlten. Der Übergang selber war ein Chaos von Fußgängern und Autos und mittendrin die Grenzsoldaten, resigniert und verwirrt. Seltsamerweise war aber alles noch intakt, nicht einmal eine Scheibe zerbrochen. Als wir uns gegen den Strom nach Osten durchkämpften, beachtete uns niemand. Vielleicht hielten uns die Grenzer ja für die ersten Rückkehrer vom Westbesuch. Aber wie jetzt weiter? Zum Alex? Aber ob da etwas los sein würde? Oder waren jetzt alle am Kurfürstendamm? Da wir nun mal im Osten und zu Fuß waren, beschlossen wir, von der Ostseite noch mal zum Brandenburger Tor zu gehen. Vielleicht strömten die Leute ja dort auch schon über die Mauer? Aber nein. Hier war die Staatsmacht fest entschlossen, Herr der Lage zu bleiben. Mehrere Postenreihen waren aufgezogen. Die wenigen Zuschauer hier auf der Ostseite wirkten ebenso angespannt wie die stummen, offenbar zum Schweigen verdonnerten Grenzsoldaten. Auch auf uns übertrug sich die Angst: Würde es gleich einen Einsatz gegen die Leute auf der Mauer geben? Besser wir verschwanden vorher. Zurück zur Invalidenstraße schien uns witzlos, also beschlossen wir, es lieber am Checkpoint Charlie zu versuchen. Durch gespenstisch düster und ausgestorben wirkende Straßen – einmal standen in einer Nebenstraße mehrere Lastwagen mit Polizei oder Grenztruppen, wir liefen stumm und eilig vorbei – kamen wir endlich zur Friedrichstraße, heilfroh, als wir den hell erleuchteten Übergang sahen. Hier aber gab es keine euphorischen Menschenmassen, nur unergründlich wirkende Grenzer. Ansonsten war alles ruhig. Langsam bekamen wir wieder Schiss: Ob sie uns überhaupt durchlassen würden? Wir waren keine Ausländer, hatten keine Passierscheine, ja M. hatte, wie sie uns jetzt gestand, noch nicht einmal einen Ausweis dabei … Also ab in den Knast? Aber sie mussten doch wissen, dass überall sonst die Grenze offen war! Halb trotzig, halb übermüdet erzählten wir kurz unsere Geschichte. Invalidenstraße, so, so … Ob sie uns glaubten? Ob es noch wichtig war? Nach einigem hin und her ging es dann plötzlich ganz schnell: „Also gut, Ihre Ausweise bitte!“ Wir zeigten unsere Personalausweise, auch ein österreichischer Pass war dabei, und dazwischen kam M., ganz ernsthaft und ohne zu lächeln, mit ihrem BVG-Ticket! Ein Blick, ein Stirnrunzeln. Stumm gab der Grenzer das Ticket an M. zurück. Dann waren wir tatsächlich durch. Eben begann die erste Morgendämmerung. Ecke Kochstraße wurde eine Sonderausgabe der B.Z. verteilt, mit der Schlagzeile des Jahres.