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Wanderboje am Mauerstreifen, Berlin 2009

Zwischen dem 13. August (Tag des Mauerbaus) und dem 9. November (Mauerfall) umrundete die Wanderboje Berlin. Die Wanderboje machte überall dort Station, wo wir private Geschichten mit der Berliner Mauer fanden.
Sie können auf die einzelnen Geschichten über die Orte des Geschehens oder die Liste der Geschichten zugreifen, zusätzlich können sie sich Bilder des Events ansehen

Das Wendekind

Im Sommer 1989, ich war gerade mit unserem 2. Kind schwanger, eröffnete mir mein damaliger Ehemann, dass er „die Liebe seines Lebens“ gefunden habe und mich verlassen würde. Ich konnte es erst gar nicht glauben, erst war das zweite Kind wie das erste ein Wunschkind und dann sollte von heute auf morgen alles vorbei sein? Es folgten harte Tage des Ringens, bleibt er, bleibt er nicht. Der Blick auf die Welt und die Ereignisse in Ungarn und in Prag und die Montagsdemonstrationen waren zwar überall in den Medien. Aber ich war damals mehr mit meinem Privatleben beschäftigt, das gerade aus den Fugen geriet. Und mit Lügen und Tränen. Die Tage und Wochen zogen sich wie Blei, wie sollte das alles weitergehen? Ohne Job, schwanger, mit einem Dreijährigen, der Fragen über Fragen stellte und eine neue Freundin, die mir mitteilte, dass mein Ehemann ihr unsere Wohnung versprochen hatte. Ohne meine Freunde und den Zuspruch von Kollegen hätte ich sicher aufgegeben. Dann wurde ich Anfang November plötzlich sehr krank, bekam hohes Fieber, Bronchitis. Der Hausarzt verordnete strikte Bettruhe, ich sollte mich schonen, immerhin war ich im siebten Monat. Der 9. November war ein trüber, nieseliger, elendgrauer Tag in Frankfurt. Mein Ex-Mann hatte nachmittags noch unter heftigem Streit persönliche Sachen abgeholt. Ziemlich erschöpft bin ich so um 19.00 Uhr mit dem Kleinen vor dem Fernseher eingeschlafen. Und irgendwann wach geworden, es war so halb zehn. Im Fernsehen flimmerten die Bilder von Menschen auf der Mauer. Mein erster Gedanke war „Was für ein seltsames Fernsehspiel der Öffentlich-Rechtlichen“ Der übliche intellektuelle Quatsch. Von meinen Gebühren bezahlt. Auf der Mauer zu feiern, wem war nur so etwas Bescheuertes in den Sinn gekommen. Die Welt, meine Welt, hatte absolut andere Probleme als auf der Mauer Party zu feiern. Ich hab dann umgeschaltet, zur ARD, dann RTL, und überall die gleichen Bilder. Es hat eine Zeitlang gedauert, bis ich realisieren konnte, dass sich gerade alles änderte. „Die Mauer steht noch 100 Jahre“ fiel mir spontan der Satz von Honecker ein. Das war in Anbetracht der Bilder grotesk. So grotesk, wie die alten Männer, deren unendliches System sich gerade in Schall und Rauch auflöste. Und dann habe ich mich auf einmal unbändig gefreut. Der erste Gedanke war, wenn 16 Millionen DDR-Bürgerinnen und Bürger heute neu anfangen, dann schaffst Du das auch. Und so ist es auch gekommen. Mein „Wendekind“ war damals das einzig Konstante in einem Leben, in dem sich wirklich alles auflöste. Der 9. November 1989 und der Mut der Ostdeutschen hat mir damals viel Kraft für den Neuanfang gegeben.