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Wanderboje am Mauerstreifen, Berlin 2009

Zwischen dem 13. August (Tag des Mauerbaus) und dem 9. November (Mauerfall) umrundete die Wanderboje Berlin. Die Wanderboje machte überall dort Station, wo wir private Geschichten mit der Berliner Mauer fanden.
Sie können auf die einzelnen Geschichten über die Orte des Geschehens oder die Liste der Geschichten zugreifen, zusätzlich können sie sich Bilder des Events ansehen

Nie hätte ich mir früher vorstellen können, dass ich einmal als Regierender Bürgermeister eines wiedervereinigten Berlin jeden Tag in den ehemaligen Ostteil der Stadt zur Arbeit fahren würde

Berlin steht in diesem Jahr ganz im Zeichen des 20. Jahrestages der friedlichen Revolution in der DDR und des Mauerfalls. Diese Ereignisse haben weltweit einen tiefgreifenden Wandel ausgelöst. Sie markieren das Ende des Kalten Krieges und der Teilung Europas. Für Berlin war der 9. November 1989 vor allem: Der glücklichste Moment in der jüngeren Geschichte der Stadt und ihrer Menschen. Mit diesem historischen Datum begann eine neue Epoche für Berlin, die die Stadt bis heute sichtbar prägt. Wer in diesen Tagen beispielsweise am Potsdamer Platz steht oder vor dem Brandenburger Tor, der kann sich kaum mehr vorstellen, dass hier einmal Mauer, Wachtürme und Todesstreifen die Szenerie bestimmten. Überall in der Stadt sind im Laufe der vergangenen zwei Jahrzehnte lebendige und attraktive Quartiere entstanden, die die von Krieg und Teilung geschlagenen Wunden geschlossen haben. Auch die Menschen haben nach den Jahrzehnten der Teilung wieder zueinander gefunden. Sicher, viele Lebensläufe sind noch geprägt von den unterschiedlichen Erfahrungen in Ost und West. Jedoch bestimmt das Leben im Zeichen der Mauer längst nicht mehr die Mehrheit der Berliner Biografien. Über die Hälfte der heute 3,4 Millionen Einwohner ist seit dem Mauerfall und der Wiedervereinigung neu in die Stadt gezogen. Und selbst viele eingesessene Berlinerinnen und Berliner wissen inzwischen nicht mehr so genau, wo die Mauer verlief und wie es sich in der geteilten Stadt damals lebte. Nichts verdeutlicht den Wandel mehr als ein Blick zurück. Man kann sich der Vergangenheit dabei auf verschiedenen Wegen nähern – zum Beispiel über verschiedene Orte in der Stadt, an deren Entwicklung sich exemplarisch ablesen lässt, wie stark der Fall der Mauer Berlin verändert hat. Das Berliner Rathaus, mein Amtssitz, ist ein solcher Ort. Nie hätte ich mir früher vorstellen können, dass ich einmal als Regierender Bürgermeister eines wiedervereinigten Berlin jeden Tag in den ehemaligen Ostteil der Stadt zur Arbeit fahren würde. Noch vor 20 Jahren residierte im Roten Rathaus, wie der Backsteinbau von jeher auch genannt wird, der Oberbürgermeister der sogenannten „Hauptstadt der DDR“. Auch Stadtverordnetenversammlung und Magistrat von Ost-Berlin hatten hier ihren Sitz. Das in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als sichtbares Zeichen bürgerschaftlichen Selbstbewusstseins erbaute Gesamtberliner Rathaus war in jenen Jahren hermetisch abgeriegelt, zugänglich nur für geladene Gäste. Wer hinein wollte, wurde streng kontrolliert. Der West-Teil der Stadt hingegen wurde vom Rathaus Schöneberg aus regiert. Bereits Ende 1948, während der Berlin-Blockade und der Versorgung der West-Berliner Bevölkerung aus der Luft, war die administrative Spaltung Berlins vollzogen worden. Die nicht-kommunistischen Politiker hatten sich wegen fortlaufender Behinderungen einen neuen Tagungsort im West-Teil der Stadt gesucht, woraufhin eine im Ost-Teil gebildete "außerordentliche Stadtverordnetenversammlung" den bisherigen Magistrat für abgesetzt erklärte. West-Berlin baute eine eigene Verwaltung auf. Das Rathaus Schöneberg war dabei zunächst lediglich als Provisorium gedacht. Es sollte Senat, Regierenden Bürgermeister und Abgeordnetenhaus nur vorübergehend beherbergen. Damals konnte sich kaum jemand vorstellen, dass die Stadt länger geteilt bleiben würde. Doch es wurden rund 40 Jahre. Während das Rathaus Schöneberg in jener Zeit oft als Schauplatz auch von Weltpolitik im Rampenlicht stand, ging es im Roten Rathaus eher ruhig zu. Die Kompetenzen und Gestaltungsmöglichkeiten der Ost-Berliner Stadtverwaltung waren stark eingeschränkt; es galt vor allem, die Vorgaben von Partei- und Staatsführung umzusetzen. Erst im Herbst 1989 rückte das Rote Rathaus wieder in das Zentrum des politischen Geschehens. So fand hier zum Beispiel am 29. Oktober unter dem Motto „Offene Türen, offene Worte“ erstmals eine Großveranstaltung statt, auf der sich DDR-Spitzenpolitiker der Diskussion stellten. Rund 20.000 Menschen waren gekommen, weshalb das Gespräch unter anderem mit dem damaligen Oberbürgermeister Krack vor dem Rathaus im Freien stattfinden musste. Kurz darauf, am 4. November, erlebte die Ost-Berliner Innenstadt die größte Protestdemonstration in der Geschichte der DDR. Zur Abschlusskundgebung auf dem Alexanderplatz unweit des Rathauses war mehr als eine halbe Million Menschen gekommen. Fünf Tage später fiel die Mauer. Der Rest ist nun Geschichte. Aber man muss sich diese Ereignisse vor Augen halten. Nur dann lässt sich ermessen, wie rasant sich Berlin seither verändert hat. Dafür steht auch das Rote Rathaus, das seit 1991 wieder als Sitz einer Gesamtberliner Regierung dient. Auch sonst hat sich in diesen altehrwürdigen Mauern viel verändert: Das Rathaus ist nicht mehr abgeriegelt, sondern steht allen Bürgerinnen und Bürgern offen. Man denke nur an die Lange Nacht der Museen, aber auch an die vielen Lesungen, Ausstellungen, Diskussionsveranstaltungen und Konzerte, die hier regelmäßig stattfinden. Offizielle Gäste der Stadt werden in den festlichen Sälen des Hauses ebenso empfangen wie verdienstvolle Berlinerinnen und Berliner. Es gibt Bürgersprechstunden, Führungen für Schulklassen und viel Sehenswertes und Informatives – wie zum Beispiel die Erinnerungstafel zum Gedenken an die durch die Nationalsozialisten verfolgten und ermordeten Stadtverordneten oder in der Vorhalle die Luftaufnahmen des Berliner Zentrums aus verschiedenen Jahren, die ein eindrucksvolles Zeugnis ablegen von den rasanten Veränderungen der Stadt. In diesem Sinne ist das Rote Rathaus auch zu einem Symbol für die lebendige, weltoffene und vielfältige Metropole geworden, zu der sich Berlin im Jahr 20 nach dem Mauerfall entwickelt hat. Ich persönlich empfinde es nach wie vor als großes Glück, dass dieses traditionsreiche Bürger-Rathaus im Herzen Berlins nun wieder seiner eigentlichen Bestimmung zugeführt werden konnte.