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Wanderboje am Mauerstreifen, Berlin 2009

Zwischen dem 13. August (Tag des Mauerbaus) und dem 9. November (Mauerfall) umrundete die Wanderboje Berlin. Die Wanderboje machte überall dort Station, wo wir private Geschichten mit der Berliner Mauer fanden.
Sie können auf die einzelnen Geschichten über die Orte des Geschehens oder die Liste der Geschichten zugreifen, zusätzlich können sie sich Bilder des Events ansehen

Slalom zwischen Panzersperren

Im Sommer 1989 war ein Freund von mir über Ungarn abgehauen. Irgendwann bekam ich einen Anruf aus Süddeutschland. Ich freute mich riesig – Jan im Westen. Jetzt konnten wir uns bestimmt häufiger sehen. Er bat mich, zu seinem Vater nach Ost-Berlin zu fahren, um von dort seine Zeugnisse in den Westen zu schmuggeln, die sein Vater abfotografiert hatte. Von einem Freund borgte ich mir ein Auto, denn Jans Eltern lebten ziemlich weit draußen in Köpenick. Es musste alles ganz schnell gehen, denn Jan brauchte lauter Unterlagen, Geburtsurkunde und so weiter. Leider hatte mich genau zu diesem Zeitpunkt eine Sommergrippe erwischt – aber nun hatte ich für den 18.10. das Visum. Ich hatte 40° Fieber und es war ein heißer, fast noch sommerlicher Tag. Als ich bei Jans Eltern ankam, begrüßte mich sein Vater ganz aufgeregt: „Gerade kam die Nachricht, dass Honecker abgedankt hat! Darauf müssen wir einen trinken.“ Wir saßen vor dem Fernseher und prosteten uns zu und mir wurde immer schummeriger. Bei der Hitze von Innen und Außen kam ich mir seltsam unbeteiligt vor. Dann verstauten wir den entwickelten Film in einem kleinen Filmdöschen irgendwo unter der Abdeckung der Gangschaltung des kleinen geborgten Autos. Das war sicherlich kein besonders originelles Versteck und jeder geschulte Grenzer würde genau dort nachsehen. Aber mir kam das ganze Geschehen sowieso schon so unwirklich vor wie hinter einem Schleier. Jan musste mit seinem Vater schon Kontakt aufgenommen haben, um ihn um die Fotoaufnahmen zu bitten. Wahrscheinlich waren die Telefone überwacht – aber vielleicht hatte die schwindende Staatsmacht jetzt auch andere Sorgen. Jedenfalls bat mich Jans Vater, die Lieblingskleider von Jans Freundin über zu ziehen und ihren Schmuck anzulegen, weil sie auf ihrer Flucht fast nichts hatten mitnehmen können. Über meinen fiebrigen Kopf zog ich – wenn ich mich recht erinnere – drei Lagen Sommerkleider und mit Ketten, Ringen und Armreifen behängt, sah ich bald aus wie ein ziemlich merkwürdiges Zirkuspferd. Dann machte ich mich auf die Rückfahrt und hoffte, die ewig lange Fahrt über das Adlergestell würde mich bis zum Grenzübergang Sonnenallee wieder nüchtern machen. Bei diesen Autofahrten durch Ost-Berliner Vororte kannte ich die Strecke nie und hatte immer Angst, mich total zu verfahren. Zu allem Überfluss war das Auto, das ich mir ausgeliehen hatte, sehr auffällig: es war mit bunten Hirschen bedruckt. Endlich erreichte ich den Grenzübergang und ich war furchtbar aufgeregt. Die 1. Kontrolle passierte ich wie durch ein Wunder ohne näher durchsucht oder ausgefragt zu werden. Aber dann, als ich mich wieder ins Auto setzte, um auf die Westseite rüber zu fahren, würgte ich den Motor ab und das kleine Hirschauto wollte nicht wieder anspringen. Ich stand mit dem Auto genau zwischen den Panzersperren – riesigen Betonblöcken, um die man langsam im Slalom herumfahren musste. Oben von den Wachtürmen johlten sie schon – eine bescheuert aufgetakelte Frau, die nicht Autofahren kann. Tatsächlich gelang es mir nicht, das Auto zu starten. Es hatte einen Choke, der nicht automatisch zurückging. Je öfter ich versuchte das Auto anzulassen, desto mehr soff der Motor ab. Ich hatte das Gefühl, wenn ich noch länger alles blockierte, kämen die Grenzer bestimmt und würden mich genauer durchsuchen. Also beschloss ich, das Auto zwischen den Panzersperren hindurch zu schieben. - Als ich endlich auf der West-Berliner Seite war, ließ ich mich auf den Fahrersitz plumpsen und heulte – ziemlich jämmerlich.