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Wanderboje am Mauerstreifen, Berlin 2009

Zwischen dem 13. August (Tag des Mauerbaus) und dem 9. November (Mauerfall) umrundete die Wanderboje Berlin. Die Wanderboje machte überall dort Station, wo wir private Geschichten mit der Berliner Mauer fanden.
Sie können auf die einzelnen Geschichten über die Orte des Geschehens oder die Liste der Geschichten zugreifen, zusätzlich können sie sich Bilder des Events ansehen

Klappkarte, Zählkarte

Als gebürtiger Berliner (WEST) habe ich meine Zeit in Ost-Berlin mit "roter Klappkarte" (Diplomatenausweis) ganz besonders genossen. Ich wohnte damals in Lichtenberg und konnte bei Bedarf alle Grenzübergänge problemlos passieren. In der Adventszeit besorgte ich meiner Mutter, die einen Westdeutschen Paß hatte, eine Aufenthaltsgenehmigung für "Berlin, Hauptstadt der DDR", wie es im offiziellen Sprachgebrauch der Organe hieß. Mein Vater hatte aber nur seinen grauen West-Berliner Personalausweis und da war das Verfahren weitaus schwieriger. Eines Abends, meine Frau und meine Mutter waren in der Oper unter den Linden, bin ich zu meinem "alten Herren" nach West-Berlin gefahren und habe ihn gefragt, ob er nicht Lust hätte nach fast 30 Jahren mal wieder die "Linden" zur Oper runter zu bummeln. Ich glaube in dem Moment hat er an meinem Verstand gezweifelt, weil er ja kein Visum hatte. Kurzum, wir fuhren zum "Checkpoint Charlie". Mit CD-Kennzeichen und da mich und mein Auto die meisten Grenzer kannten, konnten wir direkt bis zur letzten Sichtkontrolle fahren, wir "Privilegierten" mußten auch nicht aussteigen und wurden meist sehr höflich behandelt, was dann auch für unsere Gäste galt. Vater hatte aber weder ein im Sinne der Grenzorgane gültiges Reisedokument noch ein Visum und wir befanden uns mitten im Kontrollpunkt, der in jedem Falle nicht für ihn als West-Berliner, sondern nur für Diplomaten, Militärs und Ausländer da war. Die Verwunderung des Grenzers war also groß und er trabte zu seinem Vorgesetzten. Ein Major, den ich auch schon kannte, kam und fragte mich, was er denn nun tun solle, ich wüßte doch, daß er meinen Vater (damals 78 jährig) auffordern müsse sofort das Gebiet der "DDR" zu verlassen, im Prinzip ihn sogar wegen Grenzverletzung "festsetzen" müßte. Ich antwortete, daß er uns auch einfach passieren lassen könne, ich käme mit meinem "Alten Herren" vor Mitternacht schon wieder zurück. Er schaute mich an und fragte auf welcher Grundlage das den wohl geschehen sollte, ich sagte,"weil wir uns kennen, Sie mir vertrauen und auf der Grundlage der Menschlichkeit". Darauf der Major: "Ihr Vater hat aber kein hier gültiges Reisedokument und dieser Grenzübergang ist für ihn schon gar nicht zuständig". Ich dachte es ist ein schöner Abend, schauen wir mal was geht und sagte ihm: "Herr Major, mein Vater ist 78, hat in 4 verschiedenen Deutschland gelebt, sein Geburtsort in Pommern ist heute polnisch und die Stadt, in der er die meiste Zeit seines Lebens gelebt hat, ist geteilt, wollen wir beide das nicht einfach ignorieren und der Geschichte ein Schnippchen schlagen, damit der alte Mann, vielleicht das letzte Mal, mit seiner Familie heute die "Linden", die Oper und den Dom sehen kann? Er schaute mich lange an, nahm Vaters grauen West-Berliner Personalausweis und ging in seine Wachstube. In weniger als einer Minute kam er zurück, ohne den Ausweis aber mit einer gestempelten Zählkarte und sagte schmunzelnd:"Ich sehe Sie beide vor 00:00 Uhr hier wieder und morgen hat das alles nicht stattgefunden, gute Weiterfahrt!" Mein Vater war so erregt von der Sache das er in der ganzen Zeit kein Wort rausbrachte, als wir aber jetzt das kleine Stückchen bis zur Kreuzung "Unter den Linden" fuhren, um dann nach rechts abzubiegen, rollten dem alten Mann ein paar Tränen über die Wangen. Selbstverständlich waren wir pünktlichst "zurück", bekamen Vaters grauen Ausweis wieder und dachten noch lange über diesen für damalige Zeiten höchst ungewöhnlichen Abend nach. Leider verstarb mein Vater im nächsten Jahr, so daß er den Mauerfall nicht mehr erlebte und sein Besuch "der Linden" im Winter 87 das letzte Mal war. Den Major hatte ich danach, trotz einer Vielzahl von Grenzpassagen, nie wieder gesehen. Ich hoffe, daß das nur Zufall war und er für sein kleines Bißchen "Menschlichkeit" keinen Ärger bekam.