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Wanderboje am Mauerstreifen, Berlin 2009

Zwischen dem 13. August (Tag des Mauerbaus) und dem 9. November (Mauerfall) umrundete die Wanderboje Berlin. Die Wanderboje machte überall dort Station, wo wir private Geschichten mit der Berliner Mauer fanden.
Sie können auf die einzelnen Geschichten über die Orte des Geschehens oder die Liste der Geschichten zugreifen, zusätzlich können sie sich Bilder des Events ansehen

Die Spitze des Eisbergs

Mein ganzes Leben ist verbunden mit der Mauer! Diese Geschichte ist nur die Spitze eines Eisberges. Der Eisberg ist mein Leben und nur die Spitze guckt heraus. Das hängt alles mit der Entscheidung zusammen, die meine Eltern am 12. August 1961 trafen, respektive mein Vater. In den Sommerferien fuhren wir immer nach Grünheide, weil die Landschaft dort für uns Erzgebirgler ideal ist. Es gibt Wasser, es gibt höchstens eine Woche schlechtes Wetter, wenn man zwei Wochen in Urlaub fährt, höchstens! (Im Erzgebirge sind die Sommer, oft grau und naß.) Das Hauptargument aber war, dass man von dort aus nach West-Berlin fahren konnte. Mit dem PKW fuhren wir immer über Rahnsdorf. An der Ortsgrenze zu Berlin standen Schilderhäuschen, dort hielten die PKWs an und man musste sich ausweisen. Und da wurde uns Kindern immer gesagt: "Seid bloß ruhig! Sagt nichts!" Denn das Ziel war ja klar: Mit dem Auto nach Ost-Berlin fahren, in der Nähe der U-Bahnlinie, an der Stalinallee parken, um dann nach West-Berlin zu fahren. Die Fahrten nach West-Berlin waren immer die Höhepunkte des Jahres. Es gab Geburtstage, es gab Weihnachten und dann die Urlaube mit den Eltern, um nach West-Berlin zu können. So auch am 12. August 1963. Meinen Eltern wird damals nicht verborgen geblieben sein, dass im Umfeld von Berlin massive Truppenbewegungen stattgefunden hatten. Russische Truppen. Meine Mutter war sehr ängstlich. Die Eltern meiner Mutter und auch die Mutter meines Vaters lebten noch in hohem Alter. Die waren zu Hause, wußten von nichts und wir fuhren von Grünheide nach West-Berlin. Wir stiegen also an der Stalinalle in die U-Bahn, halb beklommen, die U-Bahnschächte sahen damals schon so aus wie jetzt mit diesen Spaltfliesen an den Wänden. Und in West-Berlin stieg man aus der U-Bahn wieder aus und der erste Eindruck war: Aroma! Seife! Schokolade, Kakao! Fremde Gerüche, die man sich viel besser merken kann als oftmals Bilder. Durch Gerüche wird man eher an etwas erinnert als durch andere Dinge. Und dann war da immer diese Erwartungshaltung von uns Kindern. Ich wollte immer eine Wasserpistole! Aber die habe ich nie gekriegt. Niemals! Wir kriegten immer Comic-Hefte, Kaugummi, denn die in der DDR waren nicht in der Lage, Kaugummis herzustellen. Obst wurde gekauft, Bananen und so was. Mein Vater ging dann in die Wechselstube und tauschte Ost-Mark 1:4 oder 1:3 in Deutsche Mark und meine Mutter war scharf auf nahtlose Perlonstrümpfe. Das waren alles keine unerschwinglichen Dinge und meine Mutter kaufte Romanhefte, Heile-Welt-Hefte. Und dann, wenn man aus den U-Bahnschächten rauskam, war das ein überwältigender Eindruck, den Straßenverkehr in West-Berlin mitzuerleben. Ganz besonders diese Kabinenroller, Messerschmidt oder sowas. Wo das Lenkrad an der aufklappbaren Verdeckseibe angebracht war. Das alles war immer höchst interessant. Wenn wir dann mit der U-Bahn wieder zurück fuhren, dann durfte noch weniger gesprochen werden, denn uns verrät ja schon die Sprache. Das merkte ja jeder, dass wir keine Berliner sind. Denn in der U-Bahn musste man damit rechnen von Uniformierten kontrolliert zu werden, was man dabei hatte. Zeitungen waren ja im Grunde völlig verboten. Wir waren dann immer froh, wenn wir wieder am Urlaubsort waren. Und wenn's dann an den Strand ging, dann durften wir mit allergrößter Vorsicht die Comic-Hefte 'Donald Duck' und 'Fix und Foxie' mitnehmen und lesen. Druckerzeugnisse waren schließlich verdächtig. Aber das war das Fenster in eine strahlendere Welt - und das ist im Kopf hängen geblieben. Wie gesagt am 12. August sind wir das letzte Mal in West-Berlin gewesen und haben vorm Schöneberger Rathaus gesessen. Sicher hat mein Vater sich damals gedacht - obwohl wir darüber nie sprechen konnten, er ist 1985 gestorben: "Hättest du nicht doch in West-Berlin bleiben wollen?" Denn er hat es zumindesten doch geahnt, dass am nächsten, übernächsten Tag irgendwas passieren würde. Die Frage ist leider unbeantwortet geblieben. Die Eltern, das Baugeschäft in der dritten Generation, gegründet 1882, das stand wohl dagegen. Wir fuhren mindestens drei oder vier Jahre nicht mehr nach Grünheide. Das war dann aus. Der Reiz war weg. Wir sind mit den Eltern 1963/64 an der Ostsee gewesen, da war schauriges Wetter - überhaupt kein Vergleich zu Grünheide. Aber wenn ich krank war als Kind - ich hatte oft Mandelentzündungen und musste alleine zu Hause bleiben, denn Mutter war beschäftigt und konnte sich nicht die ganze Zeit um mich kümmern - dann hatte ich diesen Stapel Comic-Hefte und der liegt noch heute bei mir irgendwo auf dem Dachboden. Die Comics kannte ich fast auswendig. Das war gewissermaßen ein Raum, der ausserhalb der Welt war, in der man sonst lebte - dieses Hinübergehen in die Erinnerung.