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Wanderboje am Mauerstreifen, Berlin 2009

Zwischen dem 13. August (Tag des Mauerbaus) und dem 9. November (Mauerfall) umrundete die Wanderboje Berlin. Die Wanderboje machte überall dort Station, wo wir private Geschichten mit der Berliner Mauer fanden.
Sie können auf die einzelnen Geschichten über die Orte des Geschehens oder die Liste der Geschichten zugreifen, zusätzlich können sie sich Bilder des Events ansehen

Aus den Flitterwochen im Panzerkonvoi

Ich hatte am 3. August geheiratet. Wir stiegen noch am selben Tag in unserem VW-Käfer um gen Westen zu fahren. Der Gedanke war: raus aus dem stickigen Berlin, erst einmal mit aller Vergangenheit abzuschließen und verliebt ein neues Leben zu beginnen. Wir fuhren und fuhren, bis wir in Nordwejk an Zee also an der Nordsee ankamen. Der Trubel und das Badeleben wurde ganz von den rheinländischen Familien bestimmt. Wir kamen uns recht verloren vor. So viel Betrieb und Lautstärke in Form von ständig veranstalteten „Strandgrieverien“ schreckte uns ab. Das Wetter schlug um und wir lasen am 14. August erstmals an einem Kiosk merkwürdige Nachrichten aus Berlin. Wir verstanden kein holländisch, konnten uns keinen Reim aus Grenzziehung und Abschottung machen, schließlich waren wir den kalten Krieg in Berlin gewohnt. Wir stammten beide aus West Berlin uns konnte so schnell nichts erschüttern. Am kommenden Tag verstärkten sich die dramatischen Zeitungsnachrichten, so dass wir uns aufgefordert fühlten zu Hause anzurufen. Telefonieren war nicht so einfach, wir waren in keinem Luxushotel sondern einer kleinen Privatpension. Meine Mutter schilderte uns die Zustände in Westberlin, die wir nicht als sonderlich dramatisch einordneten. Sie hatte es sich zur Aufgabe gemacht Freunde in Ost-Berlin noch mit den notwendigsten Dingen zu versorgen (Kaffee stand immer in erster Stelle) aber auch andere Kleinigkeiten wurden besorgt und mit S-Bahnfahrten hinüber gebracht. Schließlich war man geübt, seit die Grenze zur „Zone“ abgeriegelt war, kamen ja Hunderte mit der S-Bahn nach West-Berlin, aber jetzt hörte sich alles etwas dramatischer an. Mein Mann und ich saßen nach dem Telefonat auf der Düne und überlegten, ob sich das Leben für uns verändern könnte. Kamen dann aber zu dem Schluß: wir müssen nach Hause! Hier im Ausland wäre für uns kein Auskommen gewesen. Unsere Familien waren in West-Berlin, die Existenz in Form eines Antiquariats bestand schon. Man hätte kein Geld für einen Neuanfang gehabt, das wichtigste wäre eine Schreibmaschine gewesen. Ein Leben in der Emigration, das uns die Elterngeneration ständig vor Augen geführt hatte, war für uns undenkbar. Alle Varianten der Emigration wurden gedanklich durchgespielt. Wir fühlten uns nicht politisch verfolgt, hatten ja alles in West-Berlin, also bestiegen wir am 2O. August wieder den VW und rollten zurück gen Osten. Hinter Helmstedt wurde uns mulmig. Wir wurden begleitet von US-Panzern und Kriegsfahrzeugen jeder Art. Es war nur die linke Fahrspur zu benutzen. Der kalte Krieg hatte also zwischenzeitlich eingesetzt. Informationen für die Bevölkerung gab es keine, nur ein Raunen, aber das war man gewöhnt. Wir hatten die Kunst der Improvisation und des Überlebens seit Jahren geübt, das war der Dauerzustand. Zu Hause angekommen, war in West-Berlin nichts zu spüren. Das Leben ordnete sich für uns. Dramatische Nachrichten von Mauernspringern erreichten uns. Man konnte nicht helfen, auf der anderen Seite war man an der Grenze in ständiger Angst und Bedrückung vor Polizei und Militär. Man legte sich nicht mit diesen Mächten an, man wollte ja in West-Berlin überleben. Das Spannungsfeld hier war immer gegeben und machte auch die Qualität im Denken aus. Zur Maueröffnung stand ich an diesem Abend mit meinem VW, aus dem Geschäft nachhause fahrend, im Stau vor dem Rathaus Schöneberg. Fast schon in Blickweite zu den Politikern, die mich überholten, um im und vor dem Rathaus die Lage zu kommentieren. Ich war wie damals von den Ereignissen überrollt worden, konnte die Wirklichkeit kaum in Einklang mit dem Gesehenen bringen. Ich begann leise zu weinen, wie so oft bei besonders freudigen Erlebnissen und merkte, dass sich bei dem Gedanken der Maueröffnung mehr als nur Grenzbäume öffneten. Eine großes Spannungsfeld glitt von mir. Am kommenden Tag waren die Straßen überfüllt mit Ost-Berlinern, die wir alle herzlich empfingen. Jeder erzählte seine Geschichte um der Seele Luft zu mach en. So kannte ich es noch aus der Zeit nach l945. Jeder hatte nur den Gedanken „Freiheit“, der alle anderen Fragen zurück stellte. Wenn heute Bemerkungen gesagt werden wie „ so schlimm war es doch nicht in der DDR“ möchte ich dem streng widersprechen. Es war schlimm. Die Bürger der DDR haben selbst den Weg gen Westen gewählt, das sollten wir nicht vergessen. Die Maueröffnung war für mich das einschneidendste Erlebnis, noch heute sehe ich die Grenze, wenn ich Ausflüge in die Mark Brandenburg unternehme, erinnere ich mich an alte Situationen der Bedrückung (hier war dies – und das), dann überkommt mich die Freude und ein neues Heimatgefühl, das wir bis dahin vermisst hatten, es aber überall vergeblich gesucht hatten.