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Wanderboje am Mauerstreifen, Berlin 2009

Zwischen dem 13. August (Tag des Mauerbaus) und dem 9. November (Mauerfall) umrundete die Wanderboje Berlin. Die Wanderboje machte überall dort Station, wo wir private Geschichten mit der Berliner Mauer fanden.
Sie können auf die einzelnen Geschichten über die Orte des Geschehens oder die Liste der Geschichten zugreifen, zusätzlich können sie sich Bilder des Events ansehen

Aus der Erzählung: 'Das Mobile'

Seit dem Fall der Mauer ist es ein Leichtes sich in irgendeinen Teil der Stadt zu begeben, den man noch nicht kennt. Nur dort, mit erinnerungslosem Blick, habe ich das Gefühl, dass sich mir auf den ersten Blick alles offenbart. Dem Himmel, den Bäumen, den Menschen werfe ich mich entgegen, um schließich zum Reichtum der Welt selber zu werden, heißt es in einem Gedicht von Tanikawa Shuntaro. Erstmals nach Jahren lese ich wieder Gedichte. Zum Reichtum der Welt selber zu werden! Wer strebt das heute noch an? Neben meiner nicht sehr einträglichen Tätigkeit als Radioautor, habe ich die letzten drei Monate als Texter für Glückwunschkarten zugebracht. Pech nur, dass mir seit zwei Wochen keine Glückwünsche mehr einfallen, obwohl der Bedarf, anderthalb Jahre nach Maueröffnung, nach wie vor groß ist. Nach Wochen fahre ich wieder mal mit meinem Bus, durch meine Straßen, in meiner Stadt, zu meinen Baustellen, und siehe da, überall entstehen 'Büroflächen zu vermieten'. Ich komme mir vor wie ein Stadtplaner, wie ich so daherlaufe, die Baulücken schließe, imaginäre Linien ziehe von hier nach dort und die Gewichte der neuen Gebäude austariere. Ich sehe schon die ersten Sandsteinplatten aus den Fassaden fallen und die Wärmedämmung aus den Löchern flattern. Was wird übrigbleiben von unserer Kultur? Dienstleistungen lassen sich schließlich nicht ausgraben. Auch wenn die Stadt in den nächsten Jahren ihr Gleichgewicht aus Erinnerung und Selbstvergessenheit nicht hinbekommen wird, so soll es wenigstens mir gelingen, trotz des Berliner Himmels, der nie ein Willkommensgruss sein wird. Entweder ist der Himmel zu hoch und die Stadt dann zu flach, was unweigerlich ein Gefühl der Verlassenheit hervorruft. Oder es ist bewölkt, und Berlin wird zu einer endlos grauen Wohnung mit viel zu vielen Zimmern. Der Berliner Himmel wird nie das regnerische Laisser-faire Amsterdams besitzen, nie die noble arrogante Abendröte von Paris, nie das morbide Flimmern Roms, und auch nie die Transparenz New Yorks. Es wird immer der Berliner Himmel sein, weil Himmel und Geschichte aufeinander verweisen.