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Wanderboje am Mauerstreifen, Berlin 2009

Zwischen dem 13. August (Tag des Mauerbaus) und dem 9. November (Mauerfall) umrundete die Wanderboje Berlin. Die Wanderboje machte überall dort Station, wo wir private Geschichten mit der Berliner Mauer fanden.
Sie können auf die einzelnen Geschichten über die Orte des Geschehens oder die Liste der Geschichten zugreifen, zusätzlich können sie sich Bilder des Events ansehen

Guck mal, die Commis da drüben

Zeit: Freitag 13. Dezember 1986, 17.45-18.13 Uhr Ort: Ost-Berlin, Prenzlauer Berg, an der Berliner Mauer mit KFZ-Graben, Panzersperren, Postenweg, Lampentrasse und Blumenschalensperre Handlungsraum: Zwischen dem Beobachtungsplattform für Touristen im Wedding - Wachturm der Grenztruppen an Bernauer/Eberswalder Str. und Bürgersteig Oderberger Personen: Mustafa: afro-deutscher Künstlertyp (24 Jahre) aus Ost Berlin mit lockigem Pferdeschwanz, alter Motorradlederjacke und ausgewaschenen Röhrenjeans, braune ausgetretene Wildlederschuhe Stasi-Offizier (49)) in Grenzpolizei-Uniform, ein graumelierter griesgrämiger Mann mit dem Gesichtsausdruck eines deutschen Schäferhundes Amerikanische Familie (Vater 38, Mutter 32, Sohn 12, Sohn 10)- Sweatshirts und farbige Kapuzenregenjacken, Jeans und Turnschuhe Postbeamter (45) in grauer Uniform, Zwei Grenzsoldaten (25,19) in Uniform mit Kalaschnikows und deutschen Schäferhunden (abgerichtet als Grenzspürhunde) Es ist 17.45. In einem der heruntergekommenen, grauen Altbauten mit Einschusslöchern in der Oderberger Straße 49 öffnet sich langsam die Tür. Mustafa kommt heraus und schaut fragend in den Himmel, dann auf seine Uhr. In der anderen Hand hält er ein Paket, das er noch zum Postamt in der Eberswalder bringen will, bevor diese um 18.00 schließt. Es sind nur 500 m Fussweg bis um die Ecke in der Eberswalder Strasse. Er kann es also ganz gelassen angehen. Er schlendert in Gedanken versunken nach Norden Richtung Mauer. An der Nordseite der Oderberger Straße ist ein kleiner Durchgang auf dem Bürgersteig, der als Zugang und Abkürzung in die Eberswalder Strasse dient. Doch es ist wie immer belasten die 5 min bis zur Blumenschalensperre aus Beton zu passieren. Denn dort steht ein Schild: Halt Staatsgrenze der DDR - Passieren verboten! Mustafa blickt auf die Uhr und dann nach oben in den grauen wolkenverhangenen Himmel. Alles wirkt bedrohlich. Es fängt an zu regnen. Er bleibt kurz stehen und steckt das Päckchen zum Schutz unter die Lederjacke. Als er schneller gehen will, gerät er auf den nassen Pflastersteinen plötzlich ins Rutschen. Er fängt sich wieder, doch ein großer Haufen frischer Hundescheiße klebt an seinem linken Schuh. Mustafa versucht den Hundedreck wieder loszuwerden und sieht sich zornig nach einer Pfütze um. Doch die Scheiße an seinem Schuh ist hartnäckig und obwohl es regnet findet er keine Lösung. Stattdessen sieht er an der Hauswand gegenüber einen Abfallcontainer mit einem Packen alter Zeitungen. Er reißt eine der Zeitungen heraus und reinigt damit unbeholfen seinen Schuh. Ein Stasi-Offizier in Polizei Uniform hat ihn heimlich unauffällig von einer dunklen Ecke aus beobachtet. Jetzt kommt er auf ihn zu von der anderen Straßenseite. Doch Mustafa sieht ihn nicht und wirft die mit Scheiße beschmierte Zeitung, eine Sonderausgabe des Neuen Deutschlands, (Propagandablatt der kommunistischen Einheitspartei) achtlos auf die Straße. Er will gerade weiter zur Ecke Eberswalder, da tritt der Stasi-Offizier hervor und versperrt ihm mit kaltem Blick den Weg. Mustafa wird langsamer. Noch immer hält er das Päckchen unter der Lederjacke an seinen Körper gedrückt. Keine falsche Bewegung oder Geste, sonst kann er nicht am Grenzgebiet vorbei. Die Sache mit der Post wäre abgehakt. Es ist 17.50. Mustafa geht nun direkt am äussersten Rand des Bürgersteig fern vom Grenzsicherheitsbereich entlang, um dem Offizier nicht allzunah zu begegnen. Doch der kommt näher. Sein Herz rast. Gedanken schießen ihm durch den Kopf: Was hat er falsch gemacht? War es ein Fehler, sich die Scheisse mit dem Neuen Deutschland abzuwischen? Warum muss der Typ ihn jetzt kontrollieren, wo er es eilig hat? Er geht unbeirrt weiter und murmelt leise vor sich hin: "Scheiß Mauer. Alles ein riesen Mist..." Er denkt, an seine Tante Annelore aus Duisburg, die diesen Weihnachtstollen per Post sehnlich erwartet. Schliesslich hat sie immer an ihn gedacht. 20 Jahre lang pünkllich die Westpakete mit schicken Anziehsachen rübergeschickt. Nun soll sie ihren Dresdner Stollen rechtzeitig haben. Wenn es diese blöde Mauer nicht gäbe, würde er selbst nach Duisburg fahren. Aber so ist es eben, er lebt im Osten. Es ist 17. 53. Um noch rechtzeitig bis zum Postamt zu kommen, darf Mustafa keine Fehler machen. Der Stasi-Offizier flüstert etwas in sein Funkgerät. Es sind nur noch wenige Meter, die sie trennen. Die zwei Grenzpolizisten oben im Wachturm beobachten nun auch Mustafa immer aufmerksamer. Mustafa wird langsamer und bleibt stehn. Er sucht in seinen Taschen fieberhaft nach seinem Personalausweis. Endlich findet er ihn und zieht ihr heraus. In 50 m Entfernung von Mustafa, drüben auf der anderen Seit im französischen Sektor steht eine Beobachtungsplattform für Mauertouristen. Gerade jetzt steigt eine Gruppe amerikanischer Touristen auf die Beobachtungsplattform. Mustafa holt tief Luft und reicht seinen Personalausweis wortlos dem Stasimann. Er kennt diese Routine Prozedur und fühlt sich dennoch beklommen, eingeschlossen, verletzlich. Und nun wird er auch noch beobachtet von Touristen auf der anderen Seite der Mauer. Die Amerikaner sind ganz verzückt von der Panorama-Aussicht über die Grenzanlagen. Der Familienvater holt seine Videokamera hervor und beginnt alles zu filmen. Die zwei Grenzer richten ihre Ferngläser auf die Touristen. Mustafa blickt auf die schwarzen Raben, die frei zwischen Ost und West hin und her schwirren. Das ist ungerecht, denkt er. Die können fliegen und hinscheissen, wo sie wollen... Der Stasi-Offizier studiert wortlos den Ausweis. Akribisch prüft er die Adresse und die Ein und Ausreisestempel seiner letzten Reise vom Sommer nach Ungarn. Es ist 17.55. Mustafa geht auf Distanz zu dem Stasi-Offizier. Nach aussen wirkt er betont gelassen. Der Uniformierte zeigt auf das Paket unter seiner Jacke. Stasi-Offizier mit sächsischem Akzent: "Und was haben wir denn da?" Wortlos holt Mustafa das adressierte Päckchen hervor. Der Stasi-Offizier vergleicht die Adresse im Ausweis mit der des Absenders. Mustafa beschwichtigt nachdenklich: “ Issn Dresdner Stollen für die Tante im Westen!” Daraufhin sagt der Stasimann pikiert: "Stollen, aha... Aber der Absender auf dem Paket stimmt nicht mit ihrer Meldeadresse im Ausweis überein! Haben wir uns nicht umgemeldet?" Mustafa erwidert unterwürfig: "Jawohl, ehm nein... Herr Wachtmeister. Ich bin erst letzte Woche hier hergezogen...” Der Stasi Offizier lächelt larmoyant: "Ach, und sie denken ohne Meldeadresse kann ich sie hier passieren lassen?" Genau das hatte Mustafa befürchtet und antwortet kompromissbereit: "Ich weiß Herr Wachtmeister, das war mein Fehler, aber meine Tante wartet schon auf...." Der Stasi-Offizier fällt ihm ins Wort: "Nun, Junger Mann, wo komm wir denn hin, wen jeder hier macht und tut wie er will?" Mustafa versucht es noch einsichtiger: "Bitte, Genosse Hauptmann, die Post hier macht in fünf Minuten zu. Ich will doch bloss das Päckchen schnell abgeben. Ich werd das alles gleich am Montag auf der Meldestelle klären." Der Stasi-Offizier überprüft noch einmal Mustafas Ausweis und schreibt dann alles gelassen in sein kleines Notizbuch. Es ist 17.57. Mustafa fragt nervös: "Darf ich jetzt gehen?" Der Stasi Offizier schaut ihn überrascht an: "Sportsfreund, wann Sie gehn das bestimme immer noch ich. Ohne gültige Papiere kommt bei mir keiner davon. Schon aus Prinzip nich!" Auf der Westseite wird es zunhemend lauter. Die zwei Kids streiten sich jetzt, wer die Video-Kamera halten darf. Der Ältere sagt: "Daddy, can I have a go?" Der Vater nickt und reicht ihm die Videokamera. Die Mutter ist aufgeregt und ruft ihm zu: "Look at the commis over there, you gotta tape that, Tommy!" Der Vater schaut herüber zu Mustafa und sagt: "I didn?t know there was niggers over there..." Mustafa schaut nach oben und sieht, wie der Sohn mit der Kamera an ihn heran zoomt. Mustafa hat die Schnauze voll von dieser Schikane und schon gar kein Bock nun auch noch von Touristen gefilmt zu werden. Er streckt den Stinkefinger nach oben in die Luft. Plötzlich schreit der Vater über die Mauer hinweg: "Hey buddy! Howzit goin in the East?" Gelächter auf der Beobachtungsplattform. Alarmstufe 2. Die zwei jungen Grenzer, die die Familie vom Wachturm aus beobachten, finden das gar nicht komisch. Sie schalten ihr Megaphon an und bellen rüber: "Hier spricht die Grenzpolizei der DDR. Unterlassen Sie unverzüglich diese Kontaktaufnahme!" Die Amerikaner freuen sich, dass man sie im Wachturm so ernst nimmt. Der Stasi-Offizier schaut auf Mustafa und dann rüber zu den Amerikanern. Er ist sich plötzlich unsicher, wegen Mustafas Bitte und dem neuen Geschehn. Er mag es wenn jemand dem Klassenfeind den Finger zeigt. Mustafa erkennt seine letzte Chance und sagt: "Ich verspreche Ihnen, dass ich gleich am Montag früh meine Meldeadresse ändere!" Der Offizier schaut lange prüfend auf Mustafa und dann:" Sie melden sich bei mir persönlich zurück, sonst lass ich sie hier nich mähr durch!" Er lächelt gequält und gibt ihm den Ausweis zurück. Es ist 17.58. Der amerikanische Familienvater schreit jetzt laut: "Hey guys, are you Commis, or what? " Mustafa will schon losgehen, als ihn der Offizier am Ärmel festhält und fragt: "Was hat der da gerade zu uns gesagt?" Mustafa geniesst seine neue Rolle: "Er will wissen, ob Sie ein waschechter Kommunist sind." Der Stasi-Offizier schüttelt seinen Kopf: "Diese Scheiss- Amerikaner...die haben immer nur eins im Kopf!". Mustafa sagt: "Ja, der imperialistische Klassenfeind!" Der Offizier stimmt zu:“ Na, jedenfalls kochen die och nur mit Wasser und gehn zum Scheissen offs Kloo...” Er salutiert und geht zurück zu seinem Posten in der Hausecke. Es ist 17.59. Mustafa biegt in die Eberswalder Strasse ein. Es sind nur noch wenige Meter bis zum Postamt, als er hört wie der amerikanische Familienvater brüllt: " If you not communist, what?s a nigger like you doin over there?" Mustafa rennt die letzten 30 m bis zum Eingang des Postamt. Der Älteste fasst Mut und schreit: "Hey, wanna have some bubble gum?” Jetzt hat Mustafa genug. Er bückt sich und hebt einen großen Stein auf. Er schmeißt ihn rüber in ihre Richtung. Doch der Stein fliegt zwar über die Mauer, landet aber im Niemandsland - dem sandigen Todesstreifen zwischen Ost und West. Die Kinder lachen und schreien laut vor Begeisterung. Die Grenzhunde schlagen an und bellen. Mustafa schreit zurück: "Fuck you! This is no fuckin Disneyland! Go home and eat your Hamburgers!" Die Kinder schneiden Grimassen, trampeln mit Füßen und kreischen wie Affen im Zoo. Es ist 18.00. Die Grenzpolizei ist in hoher Alarmbereitschaft. Ein Militärfahrzeug fährt mit hohem Tempo auf den Wachturm zu. Es bezieht Stellung vor der Plattform und hält an. Ein Grenzpolizist steigt aus und stellt sich genau gegenüber der Beobachtungsplattform auf. Er schultert seine Kalaschnikow. Die Amerikaner sind plötzlich verstummt. Mustafa verschwindet in der Post. Der Postbeamte ist gerade dabei, seinen Schalter zu schließen. Er hat einen gelangweilten Gesichtsausdruck. Mustafa wirft das Päckchen auf den Tresen und beschwert sich: "Können sie nichmal ?ne Ausnahme machen. Herrgottnochmal, es ist erst um sechs! Dieses Päckchen muss zu Weihnachten bei meiner Tante in Duisburg sein!". Der Beamte antwortet nicht. Er schliesst den Schalter wortlos und schiebt ihn unsanft aus dem Gebäude. Mustafa protestiert weiter: “Ich bin aufgehalten worden von...” und der Beamte schreit zurück: "Ick hab jetzt meinen sozialistischen Feierabend. Siehste det nich!!! Wat interessiert mir deine Tante im Westen. Mann, verpiss dich!" Mustafa hat keine Chance und wird rauskatpultiert. Die Tür fällt krachend ins Schloss. Er sitzt hilflos, wie ein begossener Pudel, auf den Treppen vor der Tür. Mustafa schaut hilflos auf das Päckchen. Es ist 18.04. Auf der anderen Seite sind die Amerikaner immer noch am Filmen. Allerdings sind sie eingeschüchtert von den Grenzposten mit Kalaschnikows im Niemandsland. Mustafa guckt rüber zu ihnen und auf einmal wird er wütend. Er steht auf und beginnt zu rennen. Er kommt genau bis zum Geländer im Grenzsicherheitsbereich. Als er ganz nah an der Mauer ist, schmeißt er das Päckchen in grossem Bogen herüber. Es trifft einen der Grenzsoldaten, bevor es in den Sand im Niemandsland fällt. Frenetischer Applaus von der Familie auf der Beobachtungsplattform. Die Spürhunde schlagen an und beginnen laut zu bellen. Der jüngere Grenzsoldat wird panisch und feuert eine Gewehrsalve auf das Päckchen. Das Päckchen wird zerfetzt und gibt seinen Inhalt preis: Ein zerschossener Dresdner Weihnachtsstollen und eine ungarische Salami. Es ist 18.06 Als Mustafa die Schüsse von der anderen Seite hört, gerät er in Panik. Er springt über die Blumenschalensperre und rennt zurück in die Oderberger Straße. Der Stasi-Offizier schreit ihm hinterher: "HALT! Stehenbleiben, Deutsche Volkspolizei. Sie sind verhaftet!!" Mustafa rennt einfach weiter. Der Stasi-Offizier kann ihn aber nicht einholen. Er ruft über CB-Funk nach Verstärkung. Die Kinder auf der Aussichtsplattform schreien: "Look, Daddy, they huntin him down!!" Es ist 18.08. Mustafa passiert die Feuerwache in der Oderberger. Er rennt in Richtung Kastanienallee. Plötzlich taucht mit hoher Geschwindigkeit aus dem Nichts ein Polizeiauto auf. Es rast auf Mustafa zu. Drei Zivile springen heraus. Sie fangen ihn ab und stellen ihn gegen die Wand. Dann durchsuchen sie ihn und stoßen ihn zu Boden. Mit einer Decke über seinen Kopf wird Mustafa ins Auto gezerrt. Mustafa schreit: "Lasst mich in Ruhe, ich hab euch nichts getan! " Ein Beamter startet den Wagen. Das Auto verschwindet mit Blaulicht um die Ecke in der Kastanienallee. Es ist 18.10. Der ältere Junge fragt seinen Vater, der immer noch filmt: "Daddy, why did he throw the cake over the wall?" Der Vater schweigt und packt die Video-Kamera ein. Der Jüngere Sohn fragt nun: "Why did they put a blanket over his head?" Der Vater sagt: "I think the boy just lost it, cause he couldn?t get over the wall!" Der Ältere erwidert: " Maybe, he saw us having too much fun, daddy..." Dem Jüngsten gefällt diese Antwort nicht. Er schüttelt seinen Kopf: "Are we still gonna visit the East tomorrow, daddy?" Der Vater ist überrascht: "Yeah, son. I think, your right. We gonna drop our visit!” Die Mutter tätschelt den Kleinen gerührt und drängt zum Gehen: "Darling, we got it on tape anyway. Come on boys, we got to go now!” Der Vater steigt als erster von der Plattform und fragt: “Who wants some icecream?" Alle Hände melden sich.” Me, me and me”. Die Plattform ist leer. Der Regen hat aufgehört. Der Stasi Offizier funkt wieder zu den Grenzposten oben auf dem Wachturm:“ Falke an Sperber. Bitte kommen - alles ruhig bei euch?” Die Antwort lautet: “Ja, Sperber an Falke auf Empfang. Keine besonderen Vorkommnisse. Aber Sperber hat noch?n Stückchen ungarischer Salami für Falke gesichert...”. Es ist 18.13 Uhr. Schichtwechsel auf dem Wachturm.