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Wanderboje am Mauerstreifen, Berlin 2009

Zwischen dem 13. August (Tag des Mauerbaus) und dem 9. November (Mauerfall) umrundete die Wanderboje Berlin. Die Wanderboje machte überall dort Station, wo wir private Geschichten mit der Berliner Mauer fanden.
Sie können auf die einzelnen Geschichten über die Orte des Geschehens oder die Liste der Geschichten zugreifen, zusätzlich können sie sich Bilder des Events ansehen

Eine mutige Frau und Mutter

1961 war ich sechs Jahre alt und meine Schwester vier. Wir lebten in Stendal, wo mein Vater bei der Reichsbahn arbeitete. Dadurch kannte meine Mutter die Nebenstrecken, auf denen man noch ohne Kontrolle in den Westen gelangen konnte. Denn obwohl die Mauer noch nicht stand, waren die Kontrollen strenger geworden. Anfang 1961 hatte sie unseren Verwandten verraten, wie sie am einfachsten nach (West-) Berlin kommen konnten. Sie wurde denunziert - angeblich von meinen Vater, aber das sind Gerüchte, die sich nie klären ließen. Was dafür sprach, war, dass die Ehe meiner Eltern keine gute und mein Vater zudem in "der Partei" war. Meine Mutter jedenfalls erhielt an einem Freitag einen Brief:" Im Namen des Volkes" 3 Jahre Gefängnis, wegen Beihilfe zur Flucht! Sie solle sich am kommenden Montag im Gefängnis melden. So zog sie uns an jenem Sonntag vor besagtem Montag an und erzählte uns " Wir machen einen kleinen Ausflug". Sie selbst nahm nichts mit außer unseren Pässen und ihrer kleinen Handtasche und wir machten uns auf den Weg. Bis auf die Tatsache, dass ich einen grünen Strickanzug trug, sind mir alle Details entfallen, die letzten 10 Minuten vor Grenzübertritt werde ich jedoch nie vergessen. Wir saßen alle zusammen in einem Abteil und hörten die VOPOS langsam Abteil für Abteil näher kommen. Auf eine für uns Kinder unerklärliche Weise wuchs wortlos die Spannung in unserem Abteil, und als die VOPOS die Tür zu unserem Abteil aufrissen und "ihre Pässe bitte!“ brüllten, gab es für uns Kinder kein Halten mehr - wir weinten, schrieen,und klammerten uns an unsere Mutter und waren nicht mehr zu beruhigen. Die VOPOS schauten uns an, dann unsere Mutter, danach in ihr dickes Buch für registrierte Straftäter, zurück zu uns und sagten: "Gute Reise, Frau König". Ich glaube, wir hatten uns erst in (West)Berlin wieder beruhigt. Auch wenn ich jetzt in Worten darüber berichte, hat mich diese Reise etwas gelehrt: "Das Wesentliche wird nicht mit Worten vermittelt, es nimmt andere Wege."