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Wanderboje am Mauerstreifen, Berlin 2009

Zwischen dem 13. August (Tag des Mauerbaus) und dem 9. November (Mauerfall) umrundete die Wanderboje Berlin. Die Wanderboje machte überall dort Station, wo wir private Geschichten mit der Berliner Mauer fanden.
Sie können auf die einzelnen Geschichten über die Orte des Geschehens oder die Liste der Geschichten zugreifen, zusätzlich können sie sich Bilder des Events ansehen

Die Spitze des Eisbergs - Fortsetzung

Und eigentlich gehört zu dieser Geschichte noch der Zeitsprung in das Jahr 1989 Inzwischen - im Sommer 1989 - war meine Schwiegermutter als Rentnerin nach Alt-Wittenau (West-Berlin) übergesiedelt. Und damit war formal erstmals die Grundlage geschaffen, dass ich vielleicht unter irgend einem Vorwand ins 'Westliche Ausland', nach West-Berlin hätte reisen können. Anfang November hatte ich einen Pass beantragt, denn meine Schwiegermutter hatte am 22.11. Geburtstag. Mittlerweile war ich selbst ohne Arbeit. Ich bin einer derjenigen, die von sich behaupten können, das Ende der DDR zwar mit einem gültigen Arbeitsvertrag, aber ohne Arbeit und ohne Einkommen erlebt zu haben. Das war das Ende meiner 'DDR-Karriere'. Ich trug mich damals mit dem ernsthaften Gedanken, diesen Baubetrieb, den der Großvater gegründet hatte und der 1972 zwangsverstaatlicht worden war, in irgend einer Form wieder auferstehen zu lassen, als kleinen Handwerksbetrieb für Bauwerkstrockenlegungen. Die DDR Bauakademie hatte ein Verfahren entwickelt, das es so noch nie vorher gegeben hatte und ich war beschäftigt gewesen beim sogenannten Erstanwender dieses Verfahrens. (Die 'Totentanz' -Skulpturengruppe in der Marienkirche ist mit diesem AET-Verfahren gerettet worden.) Ich wollte also ein derartiges Baugeschäft eröffnen und hatte den Passbehörden erklärt, dass ich unbedingt nach West-Berlin müsse, denn nur da gab es die entsprechenden Werkzeuge (Bohrhämmer, CM-Messgeräte etc.), die ich brauchte. Zu dem Zeitpunkt waren die Beamten, die zum MfI/ MfS gehörten schon wesentlich leutseeliger geworden. Dann kam der 9. November und die Frage nach Pass oder nicht Pass war hinfällig geworden. Ich habe ihn auch nie abgeholt. Und ich bin auch nicht am 9. November rübergefahren, sondern erst eine Woche später zum Geburtstag der Großmutter. Denn ich wollte, dass meine mittlerweile halbwüchsigen Kinder noch in ihrer Kindheit dieses Erlebnis ebenfalls mitbekommen, diesen historischen Augenblick miterleben. Und was hatte ich im Hinterkopf? Meine eigenen Erinnerungen aus der Kindheit. Das Aroma, das sommerliche Aroma, die Grüche nach Seife, Schokolade, frisch gemahlenem Kaffee. Wir fuhren mit Bettzeug und Decken, die noch zur Großmutter gebracht werden sollten und dick angezogen mit dem Trabant, der ja im Winter so gut wie unbeheizbar ist auf der Autobahn nach Berlin. Aber schon ab der Ausfahrt Cottbus kam es zu Stauungen. Wir fuhren über den Grenzübergang Bornholmerstrasse, denn Wittenau liegt ja im Norden. Die ganzen Jahre hatte ich mir gewünscht, die Grenzanlagen auch mal von der anderen Seite sehen zu dürfen. Und jetzt trat die Situation ein: wir fuhren wie durch ein Labyrinth durch die ganzen Absperrungen und über die S-Bahnbrücke und konnten gar nicht richtig feststellen: an welcher Stelle ist jetzt die Grenze ganz genau. Vor der Brücke? Dahinter? Und es war alles ein ganz profaner Eindruck, eigentlich eine Enttäuschung. Eine Enttäuschung! Denn die Bornholmer Strasse setzte sich in ihrer Bebauung ganz genauso fort, nur dass die Erdgeschosse ein bißchen besser renoviert waren. Und sich dort mehr Geschäfte befanden. Das einzige was mir auffiel, waren riesengroße grüne Blätter, die die Straßen bedeckten und die noch nicht verwelkt waren. Plantanenblätter, wie ich später erfuhr. Und da dachte ich: "Mensch, die haben sogar dieses grünen Blätter zur Verzierung! Um uns gewissermaßen einen grünen Teppich auszulegen." Aber es war eben insofern eine Enttäuschung, weil sich die Eindrücke aus der Kindheit nicht wiederholten. Was sich solange angestaut hatte - 28 Jahre lang. Mein halbes Leben hatte ich sozusagen dieses Fernziel gehabt. Und jetzt waren wir also da und die Großmutter erwartete uns, die sich schon in ihrer neuen Umgebung eingelebt hatte. Es war ein sehr hektischer Besuch. Erstmal zum Bezirksamt Reinickendorf, um das Begrüßungsgeld abzuholen und dann ins Märkische Viertel, wo die Großmuter immer einkaufen ging. Und da hat mich zum ersten Mal diese Vielzahl des Warenangebots abgestoßen. Es hat mich tatsächlich abgestoßen. Ich dachte: Wie kann das denn einer alles verbrauchen? Die vielen Textilien, diese ganzen Sachen, die dann alle altmodisch werden... Die Großmutter wollte uns dann natürlich was Gutes tun und wir sind dann mit dem Bus zum KuDamm gefahren. Wir saßen im Oberdeck des Busses und sind über die Müller Str. , Aroser Str. gefahren, oder wie das da oben heisst. Also nicht gerade die Boulevards von Reinickendorf. Und man konnte vom Obergeschoss aus über die Mauern gucken in die Grundstücke und da hatte ich dann Gedanken: "Hej, Mensch, brauchst dich mit deinem Grundstück zu Hause vielleicht doch nicht zu verstecken!" Es ist nicht alles glänzend, was man da gesehen hat. Wir fuhren dann vom U-Bhf. Leopoldplatz - ein Wahnsinns-Gedränge - bis zum KuDamm. Dort war ein riesen Rummel, Straßenclowns und lauter Sachen, die man noch nie gesehen hatte und Leuten von der Heilsarmee, die uns die GANZE Wahrheit über Honecker erzählen wollten. Wir mussten uns dann noch das Europa-Center ansehen, aber das war dann einfach zu viel für mich. Wir sind dann noch am gleichen Tag nach Hause gefahren. Und die letzte Erinnerung an West- und Ost Berlin war ein DDR-Grenzer, der uns eine gute Heimreise wünschte. Im freundlichsten Ton!